Der ganz Andere
Es lebte ein Mensch, der schon lange Jahre das Gefühl hatte: „Es muss etwas anders werden.“ Da er das aber nur so ungefähr fühlte und nicht genau wusste, was und wie, wurde er immer unzufriedener. Als er merkte, dass kein guter Wind wehte, machte er sich auf den Weg und sagte zu sich selbst: „Es muss anders werden. Ich werde losgehen und schauen, wo es anders ist. Es muss doch noch ein anderes Leben geben.“
Als er ein Weilchen gegangen war, traf er einen Mönch. Der stand am Wegesrand und betete versunken. Der Mensch betrachtete ihn eine Weile, bis der Mönch aufschaute. „Was tust du da?“, fragte der Mensch. „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“, sagte der Mönch. „Anders?“, fragte der Mensch. „Was muss bei dir anders werden?“
„Ach“, sagte der Mönch, „ich habe einst versprochen, mein Leben dem ganz Anderen zu widmen, nämlich Gott selbst. Im Kloster aber ist nichts anders, sondern immer alles gleich, Tag für Tag. Darum hab ich reißaus genommen.“ „Gott ist der ganz Andere?“, fragte der Mensch. „Dann muss ich zu ihm, denn ich habe mich auf den Weg gemacht, weil etwas anders werden muss. Wo finde ich ihn, den ganz Anderen?“ „Dort, wo Himmel und Erde sich berühren“, sagte der Mönch. „Das ist einfach“, sagte der Mensch und blickte zum Horizont. „Ich gehe zu ihm. Komm mit, wenn du nicht anders kannst.“
Zusammen gingen sie weiter. Darauf kamen die beiden an eine großen Straßenkreuzung. Mitten auf der Kreuzung stand ein Umweltaktivist. Der stellte sich mit fuchtelnden Armen jedem Auto in den Weg, das vorbei kam, hielt es an und redete auf die Fahrerin oder den Fahrer ein. „Was hast du vor?“, fragten die beiden ihn. „Es geht doch auch anders!“, rief der Umweltaktivist. „Es geht doch auch anders, als immer und überall hin mit dem Auto zu fahren. Man kann zu Fuß gehen oder das Fahrrad nehmen, oder den Zug. Wenn die Welt überleben soll, dann muss das anders werden.“
„Ei, was“, sagte der Mensch. „Zieh lieber mit uns fort. Etwas anderes als diese verpestete Straßenkreuzung findest du überall. Wir gehen dorthin, wo das Leben anders ist. Zu dem ganz Anderen. Komm mit.“
So zogen sie zu dritt weiter. Etwas später überholten sie eine alte Frau, ganz in Schwarz gekleidet, die ging langsam und mit gesenktem Kopf des Weges. „Was ist mit dir?“, fragten sie. „Ach.“ seufzte sie, „hätte es nicht anders kommen können? Ich bin krank und alt geworden, und doch habe ich meine Tochter zu Grabe tragen müssen. Gerade komme ich vom Friedhof und wünschte, ich hätte an ihrer Statt gehen können.“
Da seufzten alle drei mit ihr. Der Mönch sagte: „Es wird anders kommen, gute Frau. Für Dich, für deine Tochter, für uns alle.
Wir gehen zu Gott, der versprochen hat, dass eine andere Welt, ein anderes Leben auf uns wartet. Eines ohne Tränen, ohne Schmerzen, ohne Leid. Zieh mit uns fort. Etwas besseres als den Tod findest du überall. Dort hinten, wo Himmel und Erde sich berühren, dort lässt er sich finden.“
So gingen sie zu viert noch eine Weile, bis sie schließlich, als es schon Abend wurde, ankamen an dem Ort, wo Himmel und Erde sich berührten. Dort leuchtete die Sonne noch glutrot über dem Horizont, dort rauschte der Wind in den Bäumen, und es brannte ein Feuer. Sie betrachteten es eine Weile aus sicherer Entfernung. Außer ihnen ließ sich keine Seele blicken.
Schließlich traute sich der Mensch, der sich als erster auf den Weg gemacht hatte, auch als erster und ging allein zum Feuer. Die anderen sahen ihm zu, wie er dort eine Weile am Feuer stand. Dann kehrte er zu ihnen zurück. Und sie sahen auf seinem Gesicht ein Leuchten, dass sie sich nicht erklären konnten. „Und, was hast du gesehen, im Feuer? Ist er dort, der ganz Andere?“, fragten sie.
„Mir war,“ sagte der Mensch, „als habe ich in den Flammen mich selbst gesehen. Und mir war, als hörte ich eine Stimme, die sprach: „Ich bin, der ich bin, der ganz Andere. Du bist das Licht der Welt, Salz der Erde. Du machst den Unterschied. So lass dein Licht leuchten vor den Leuten.“
Daraufhin ging der Mönch ans Feuer, stand dort eine Weile und kehrte zu den anderen zurück. Sie wussten im selben Augenblick, dass sie ihn nicht fragen brauchten, was er gesehen habe. Sondern sie fragten nur: „Was hat die Stimme gesagt?“ Der Mönch sagte: „Ich bin, der ich bin, der ganz Andere. Wenn du mich von ganzem Herzen und von ganzer Seele suchst, will ich mich von Dir finden lassen.“
Daraufhin ging der Umweltaktivist zum Feuer, kehrte nach einer Weile zurück und sagte ihnen, was er gehört hatte: „Ich bin, der ich bin, der ganz Andere. Stein und Baum singen mir ein Loblied. Der Garten der Schöpfung, siehe er ist sehr gut. Den sollst Du bebauen und bewahren.“
Und schließlich ging auch die Frau in Schwarz zum Feuer und berichtete, was sie gehört hatte: „Ich bin, der ich bin, der ganz Andere. Mensch wie Du. Komm, mühselig und beladene, ich führe dich zur frischen Aue.“
So standen sie alle gemeinsam an dem Ort, an dem sich Himmel und Erde berührten, blickten ins Feuer, leuchteten in der untergehenden Sonne, und hörten in den Bäumen wie ein Rauschen: „Ich bin, der ich bin, der ganz Andere. Einen neuen Geist gebe ich euch und lege mein Wort in Euer Herz. Und ihr werdet mein Volk sein und ich werde Euer Gott sein.“
(es gilt das gesprochene Wort)