© St.-Paulus-Kirchengemeinde

Die Texte im Go!Special 15.11.2020

"Schreiben, was wirklich wichtig ist" (von Lutz Tietje)

Auf einmal stockt ihm die Feder. Sein Brief an die Gemeinde in Rom neigt sich dem Ende. Und irgendeine dunkle Ahnung sagt Paulus, dass auch sein Leben sich dem Ende neigt. Er fühlt sich alt. Und müde. Aber das will er den Römern nicht eingestehen. Noch kennen Sie ihn dort nur vom Hörensagen. Er hat der kleinen christlichen Gemeinde versprochen zu kommen. Nun stellt er sich ihnen vor. Mehr noch, er schreibt ihnen, was er glaubt, was ihn im Herzen antreibt. Zeile um Zeile. Paulus will zum Ende kommen. Schreiben, was wirklich wichtig ist im Leben, im Zusammenleben. Vom Frieden, vom Guten will er schreiben. Sein Herz seufzt. Ach, könnten wir doch einfach im Frieden leben.

Paulus kommt es so vor, als sei sein ganzes Leben ein einziger Streit gewesen. Er ist müde vom Kämpfen. Sein Kampf um den rechten Glauben. Sein Ringen mit Christus. Die ewigen Diskussionen mit den Brüdern und Schwestern in Jerusalem. Der andauernde Streit in den Gemeinden, den er hat schlichten müssen. Wie oft hat er über seinen Briefen gesessen und geweint. Er spürt die Ketten, die so oft an seinen Handgelenken waren. Eingesperrt, gefangen zu sein, Schläge auszuhalten und doch die Hoffnung nicht sinken zu lassen. Wie müde ist er von all der Rechthaberei. Wie leicht wäre es, sich einfach zu ergeben. Das Böse einfach siegen zu lassen, den Egoismus, die Angst zu kurz zu kommen, die Angst eigene Fehler zu zugehen. Woher die Kraft nehmen, sich wieder und wieder zu versöhnen?

So mag sich Jesus auch gefühlt haben, denkt er . Als sie ihm die Krone voller Dornen auf den Kopf drückten. Ihn anspuckten. Die Peitschen knallen ließen und dabei lachten. Eines, so erinnert sich Paulus, eines hat er von diesem Jesus gelernt: Das Böse beginnt eigentlich immer mit der Gleichgültigkeit und der Gedankenlosigkeit konkreter Menschen. Was hat diesen Jesus eigentlich stark gemacht, dass er all das ertragen konnte?

Es war die Liebe, sagt er sich. Es war das Vertrauen darauf, dass da einer ist, der zu ihm hält. Gott selbst. Und so kann Paulus es ja auch für sich selbst sagen: Dass da einer ist, der an mir festhält, auch wenn ich immer wieder schwach werde – das hat mich wieder und wieder stark gemacht. Allein darum dreht sich der Glaube: Vertraust du nur dir selbst, oder vertraust du dem, der dich liebt, von Anfang an? Die Liebe, und nicht die Angst, ist es, die dich motiviert, die vielen kleinen Schritte zu gehen, die dieser Welt ein anderes Gesicht geben. Auf der Seite des Guten stehst du, und zwar nur deshalb, weil Gott sich auf deine Seite stellt.

Paulus setzt die Feder an. Jetzt weiß er, was er ihnen in Rom unbedingt noch sagen will:

Eure Liebe soll aufrichtig sein. Verabscheut das Böse und haltet am Guten fest. Liebt einander von Herzen als Brüder und Schwestern. Übertrefft euch gegenseitig an Wertschätzung. Macht euch die Gastfreundschaft zur Aufgabe. Segnet auch die Menschen,die euch verfolgen – segnet sie und verflucht sie nicht. Freut euch mit den Fröhlichen. Weint mit den Weinenden. Seid alle miteinander auf Einigkeit aus. Werdet nicht überheblich, sondern lasst euch auf die Unbedeutenden ein. Baut nicht auf eure eigene Klugheit. Vergeltet Böses nicht mit Bösem. Habt den anderen Menschen gegenüber stets nur Gutes im Sinn. Lebt mit allen Menschen in Frieden – soweit das möglich ist und es an euch liegt. Wenn dein Feind Hunger hat, gib ihm zu essen. Wenn er Durst hat, gib ihm zu trinken. Lass dich nicht vom Bösen besiegen, sondern besiege das Böse durch das Gute!

(Römerbrief, Kapitel 12 in Auszügen)

"Rosa Parks weigert sich, ihren Platz zu räumen" (von Dorothea Lenz)

Die schwarze Näherin Rosa Parks wollte sich mit den Ungerechtigkeiten und Diskriminierungen aufgrund ihrer Hautfarbe nicht abfinden.

Sie lebte in den 1950er Jahren in dem US-Amerikanischen Bundesstaat Alabama in Montgomery. Dort war die Rassentrennung sehr stark ausgeprägt. Schulen, Parkplätze und Aufzüge trugen Aufschriften mit „Whites only“ („Nur für Weiße“). In Bussen waren Extraplätze für Weiße reserviert, die Menschen mit anderen Hautfarben nicht besetzen durften. Oder sie mussten die Reihen freimachen, sobald sich eine einzige weiße Person in eine dieser Reihen setzte. Die hinteren Plätze, die Nicht-Weiße benutzen durften, waren meistens überfüllt, während viele der vorderen Plätze freiblieben.

Am 1. Dezember 1955 weigerte sich Rosa Parks, ihren Platz zu räumen, als sich ein Weißer in eine reservierte Reihe setzte. Sie nahm diesem Menschen keinen Platz weg, sie drohte ihm nicht, sie griff ihn nicht an, sie attackierte ihn nicht mit Worten. Sie blieb einfach, müde von der Arbeit, auf ihrem Platz sitzen. Daraufhin veranlasste der Busfahrer, dass Rosa verhaftet wurde. Sie wurde zu einer Geldstrafe verurteilt, obwohl bereits ein Jahr zuvor der Supreme Court, das ist der Oberste Gerichtshof in den USA, in einem Urteil festgestellt hatte, dass Rassentrennung mit dem Recht auf Gleichheit nicht zu vereinbaren war.

Für den Tag, an dem Rosas Urteil vor Gericht gesprochen wurde, organisierten Angehörige der Frauenbürgerrechtsbewegung einen Boykott der Buslinien in Montgomery. Nahezu 100% aller Schwarzen beteiligten sich daran. Dadurch ermutigt, führten sie ihren Boykott fort und organisierten Fahrgemeinschaften und günstige Taxifahrten mit schwarzen Taxiunternehmern, um ihren gewaltlosen Widerstand fortzuführen. Die weiße Stadtverwaltung unternahm große Anstrengungen, den Boykott zu kriminalisieren. Trotzdem ließen sich die Bürgerrechtler weder beirren noch provozieren. Schließlich bestätigte das Bundesbezirksgericht das Urteil des Obersten Gerichtshofes und erklärte die Rassentrennung in Bussen für gesetzeswidrig. Ein Jahr lang hatte der Boykott gedauert. Mit friedlichen Mitteln war es gelungen, der Gerechtigkeit und der Menschenwürde für die Schwarze Bevölkerung zumindest einen wichtigen Schritt näher gekommen zu sein.

"Die couragierte Frau" (von Gerhard Schöne)

He, stell dir vor, du fährst S-Bahn. Der Sitz ist etwas lädiert.

Du guckst durch dreckige Scheiben, mit Filzstift beschmiert.

Die üblichen Sprüche: „Stoppt Tierversuche, nehmt Juden!“ „

Ali go home“ und solch ein Dreck.

Da sagt ´ne Stimme ganz deutlich: „Sie gucken wohl weg?

Sie bleiben so ruhig?!“

Ne Frau steht da und fragt weiter: „Hat das hier niemand gesehen?

Wollen sie sich daran gewöhnen?

Lassen sie so was stehen?

Oder wollen wir´s wegwischen?“

 

Und dann greift sie in die Tasche, reicht dir nen Lappen und ´ne Flasche und holt einen scharfen Schaber raus.

Ihr putzt los, die Leute stieren, fangen an zu diskutieren.

Schließlich sagt sie: “Danke!“ und steigt aus.

 

Die Frau, die du da erlebt hast, ist von Beruf Lehrerin.

Was andere schon übersehen, das nimmt sie nicht hin und machts wieder sauber.

Die ganze geistige Scheiße, die junge Nazis verschmieren, die stinkt ihr doch zu gewaltig.

Sie kann nicht kapieren, wie viele das schlucken.

Und jeden Tag nach der Arbeit rafft sie sich noch einmal auf und inspiziert Häuserwände, nimmt Gefahren in Kauf.

Und manchmal wird’s brenzlig.

 

Hakenkreuze, Nazisprüche, Juden-, Türken-, Negerflüche wischt und kratzt und schrubbt sie gründlich weg.

Wird belächelt und beleidigt, angegriffen.

Sie beseitigt unbeeindruckt weiter diesen Dreck.

 

Sie hört, das sei doch vergeblich, stünde morgen eh wieder dran, ein Fall von Selbstüberschätzung ....

Doch sie glaubt daran, dass es einen Sinn hat.

Denn wer sie sah auf dem Bahnhof, wer mit ihr fuhr im Abteil, fängt irgendwie an zu grübeln, ist er halbwegs heil und nicht schon völlig versteinert.

Der wird´s zu Hause erzählen, wird diskutieren bei Tisch.

Beim nächsten Hakenkreuz denkt er: Ob ich es wegwische?

Oder stell ich mich scheintot?

 

Danke, Gott, es gibt auf Erden Menschen, die zum Anstoß werden, die mich zwingend fragen: Bleib ich lau?

Oder werde ich endlich brennen, mich mit Haut und Haar bekennen, so wie diese couragierte Frau.

"Briefe aus dem Krieg" (von Ulrike Parey)

Flandern, 15. November 1914

Meine liebe Marie,

danke für deinen lieben Brief. Ich habe mich so gefreut, von dir zu hören und von den Fortschritten, die unsere kleine Lotte jetzt macht. Endlich komme ich dazu, dir einmal zu antworten. Du kannst dir nicht vorstellen, wie schrecklich es hier draußen in Flandern ist. So viele Kameraden sind schon gefallen oder verletzt nach hinten gebracht worden. Oftmals liegen wir tagelang in den Unterständen und kommen gar nicht heraus. Es ist kalt und regnet oft. Die Toten können wir gar nicht bergen, um sie ordentlich zu begraben. Das ist so schrecklich. Einige sind schon von den Ratten, die es hier reichlich gibt, angefressen worden. Vor zwei Tagen ist auch der Albert, mit dem ich mich ein bisschen angefreundet habe, im feindlichen Feuer getötet worden. – Weißt du noch, wie wir mit Gesang und Blumen in den Gewehren im August ins Feld gezogen sind. Lotte und du, ihr habt uns noch zu gewunken. Wir waren so sicher, dass wir vor Weihnachten wieder zu Hause sein würden. Wir haben alle gedacht, das hier sei nur ein Spiel. Aber es ist blutiger Ernst. – Ich hoffe, dass wir Weihnachten zusammen feiern können, der Hauptmann ist ganz zuversichtlich. Ich freue mich so darauf, unsere kleine Lotte auf den Arm zu nehmen und dich ganz fest an mich zu drücken.

Ich denke ganz viel an euch. Liebe Grüße dein Hans


 

Flandern 07. Januar 1915

Meine liebste Marie,

heute kam endlich dein Weihnachtspäckchen an. Wie habe ich mich über die schönen warmen Socken gefreut, die du selbst für mich gestrickt hast. Du glaubst gar nicht, wie kalt und nass meine Füße oft sind, wenn das Wasser in die Lederstiefel eindringt. Da kann so ein schönes Paar Socken sehr hilfreich sein. Auch die Kekse haben hier große Freude ausgelöst. Ich habe mit meinen Kameraden geteilt. Danke! Ich war ja so traurig, dass es mit dem Weihnachtsurlaub nichts geworden ist. Ich hatte mich so auf Lotte und dich gefreut. Nun trage ich euer Bild immer an meinem Herzen. Ich hoffe, dass ihr ein schönes Weihnachtsfest hattet, mit den Eltern und deinem Bruder.

Aber stell dir vor: Auch wir haben hier ein Weihnachtswunder erlebt. Ich hätte es nie für möglich gehalten, aber am 24. Dezember, es war ein kalter klarer Abend, der Sternenhimmel über uns, haben wir angefangen Weihnachtslieder zu singen: Stille Nacht, oh du Fröhliche, die ganze lange dunkle Linie der Schützengräben entlang aus tausenden Männerkehlen schallte es. Es ist ein Ros` entsprungen war das letzte Lied, dann konnten wir nicht mehr. Es dauerte ein paar Minuten, dann begannen sie drüben zu klatschen „Good old Fritz“ haben sie gerufen, „More, more“ Wir haben zurückgerufen: „Merry Christmas, Englishmen“ und „we not shoot, you not shoot“ und wir stellten auf den Brustwehren unserer Schützengräben kleine Tannenbäume mit Kerzen auf, die wir vom Nachschub aus Deutschland bekommen hatten. Es sah aus wie das Rampenlicht eines Theaters. Wir meinten das ernst, die Engländer zögerten aber noch, sie hatten wahrscheinlich Angst, dass wir einen Hinterhalt legen. Als dann einer unserer Kameraden in perfektem Englisch das Lied von Annie Laurie gesungen hatte, dann rief er nach einem britischen Offizier, um mit ihm Wichtiges zu besprechen. Es kletterte einer von den Engländern über die Brüstung und ging ins Niemandsland. Sie verabredeten, die Toten, die schon seit Wochen im Niemandsland lagen, zu bestatten. Sie tauschten Zeitungen und Zigaretten aus. Es fiel kein Schuss. Sie unterhielten sich, ab und zu hörten wir Gelächter. Unter stürmischem Beifall kehrten sie nach einer halben Stunde zurück in ihre Gräben, am nächsten Tag sind wir alle aus den Gräben gekrabbelt, zuerst haben wir die Toten beerdigt und dann gegen die Engländer Fußball gespielt. Alle bewegten sich frei zwischen den Schützengräben. Dann haben wir Wein und Rum getauscht, unsere Regimentskapelle hat „Home, sweet home“ gespielt und „God save the King“. Auch unsere Offiziere haben mitgemacht. Es war ein echtes Weihnachtswunder. Liebste Marie, das war so schön und tröstlich. Es wird erzählt, dass es an der ganzen Front einen Weihnachtsfrieden gegeben hat, nur wo die Preußen standen, da wurde geschossen. Der nächste Tag war noch ohne Kämpfe, aber dann wurde doch wieder geschossen. Warum konnte der Krieg nicht einfach zu Ende sein? Hoffentlich muss unser Offizier nicht dafür büßen, dass er uns 3 Tage Frieden geschenkt hat.

Meine liebste Marie, so war es Weihnachten bei uns. Ich sehne mich sehr nach euch und hoffe, dass ich bald Fronturlaub bekomme. Ob unsere kleine Lotte mich noch erkennt. Zeige ihr ganz oft mein Bild, ich trage euers immer am Herzen.

Tausend Küsse und Umarmungen dein Hans

"Ein fragiler Friede"

Im Gottesdienst wurden Auszüge gelesen aus dem Artikel "Satan, Weltherrschaft und Attila Hildmann" aus der ZEIT, erschienen am 3. September 2020 (DIE ZEIT, Nr. 37/2020)