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Die Predigt im Go!Special am 21. März 2021

"Frühlingserwachen - Zeit zum Aufbruch"

© St.-Paulus-Kirchengemeinde / P. Clausen

[Die Predigt im Go!Special wurde frei gehalten. Das hier Aufgeschriebene gibt deshalb die gehaltene Predigt nicht eins zu ein wieder. Es gilt das gesprochene Wort.]

Liebe Go!Special-Freundinnen und -Freunde!

Ich hocke am Rand des Gletschers und bin wie gelähmt. Erschrocken. Erstarrt. Ich will über den Gletscher hinabsteigen ins Tal. Aber der Einstieg ist eine circa drei Meter breite Brücke aus blankem Eis. Und rechts und links davon Gletscherspalten, die breit genug sind, um mich auf Nimmerwiedersehen zu verschlucken. Ich habe keine Steigeisen an den Schuhen, kein Seil, mit dem ich mich sichern könnte. Mir ist klar, wenn ich nur einen Schritt auf diese Eisfläche wage, werde ich mich nicht halten können. An einen Aufbruch ist nicht zu denken.

Es ist 1991, ich bin in meinen Semesterferien unterwegs auf einer Wanderung: Sechs Wochen durch das höchste Gebirge in Jotunheimen in Norwegen. Allein. Vor vier Tagen habe ich zum letzten Mal Menschen getroffen, als ich auf einer bewirtschafteten Hütte übernachtet habe. Dort konnte ich meinen Proviant auffüllen. Jetzt sind meine Vorräte fast aufgebraucht. Die nächste bewirtschaftete Hütte wartet unten im Tal auf mich, und die ist nun erstmal unerreichbar. Ich stehe auf knapp 2000 Metern Höhe auf einem Pass. Immerhin gibt es hier oben eine kleine Schutzhütte mit vier Schlafkojen. Also beschließe ich, über Nacht hierzubleiben. Ich stapfe zur Hütte zurück, fülle einen Becher mit Schnee, und esse meine letzten Haferflocken mit ein paar Rosinen eingeweicht in eiskaltem Wasser.

Die Nacht schlafe ich kaum, wälze mich in unruhigen Träumen. Als ich am Morgen beim ersten Tageslicht aus der Hütte trete, der nächste Schock: Es hat geschneit über Nacht, ein eiskalter Wind weht und ich stehe in den Wolken – dicker Nebel. Ich kann keine zwanzig Meter weit sehen. Bei diesem Wetter kann ich unmöglich aufbrechen.

Aufbruch unmöglich. Stattdessen wie gelähmt. Und wir reden heute in diesem Go!Special von der Zeit zum Aufbruch. Vom Frühlingserwachen.

Ach, wenn es doch mit dem Aufbruch so einfach wäre wie das Frühlingserwachen der Natur. Ich sehe aus dem Fenster auf die Krokusse, die blühen. Ich sehe den Vögeln zu, die ihre Nester bauen, ohne Zaudern und Zögern. Keine Sorge darüber, was alles passieren könnte, ob es im April noch einmal schneien wird, oder oder. So als wäre der Aufbruch in den Frühling das Einfachste und Selbstverständlichste. Der „Lauf der Dinge“ halt. Als ob die Natur sich einer Energie überlässt, die da ist und fließt.

Nur uns Menschen fällt es so schwer mit dem Aufbruch. Wir haben es eben erlebt in den kleinen Theaterszenen: Ganz anders als beim Löwenzahn, der sogar durch Asphalt und Pflastersteine hindurchbricht. Wie schwer ist es uns Menschen aufzubrechen – und wenn es nur zu einer Radtour ist. Eine neue Situation bei der Arbeit anzunehmen. Eine Beziehung in Ordnung zu bringen, einen Streit zu schlichten. Und wenn es nicht die Angst vor dem Aufbruch ist, dann ist es die Bequemlichkeit. Es steckt scheinbar tief in uns drin: Wir lieben es, wenn alles schön bleibt, wie es immer schon war. Auch wenn, oder gerade weil wir wissen, dass Leben immer Veränderung bedeutet.

Und wenn uns ein Aufbruch gelingt, dann ist das ein großer Moment. Da geht es um Entscheidungssituationen, Lebenswendepunkte. Da geht es um die Suche nach Glück, um Sehnsucht und die Erfüllung von Träumen.

Kein Wunder, dass die Bibel, die vom Leben erzählt, ein Buch voller Aufbruch-Geschichten ist. Ihr erinnert Euch vielleicht an einige dieser Aufbrüche: Da ist Abraham, der ganz depressiv darüber geworden war, kinderlos zu bleiben, und der dann doch aufbricht und zum Stammvater ganzer Völker wird. Da ist Petrus, der mitten im Sturm auf dem See Genezareth aufbricht, aus dem Boot steigt, und für einen Augenblick auf dem Wasser läuft. Da ist der Zöllner Levi, Marionette der Römer, gehasst von seinen Landsleuten, der alles stehen und liegen lässt und mit Jesus in ein neues Leben aufbricht. Da ist der Gelähmte, der sich ohne Hilfe nicht einen Zentimeter bewegen kann, der aufbricht, seine Matte nimmt und geht.

Und immer sehen diese Aufbrüche ganz einfach aus. Verblüffend einfach. Denn der Aufbruch selbst ist immer nur der erste Schritt.

Der Aufbruch dort oben von der Hütte ist einfach, verblüffend einfach. Am späten Vormittag, als ich immer noch wie ein Häuflein Elend in der Hütte sitze, öffnet sich plötzlich die Tür und ein paar freundliche Norweger-Gesichter schauen mich an. Völlig perplex vergesse ich jede Begrüßung, sondern frage die Norweger sofort, ob sie über den Gletscher hier hoch gekommen sind. Und sie antworten mir: „Ja klar, wie denn sonst?“.

Ich schaue sie mir an: Das sind keine Supermänner und Superfrauen, die haben keine Steigeisen oder Seile dabei. Es sind Wanderer so wie ich. Augenblicklich verstehe ich das Zeichen: Über den Gletscher zu gehen ist möglich! Die Norweger sagen mir, dass sie noch einer kurzen Rast gleich wieder aufbrechen und zurück gehen. Ich springe auf: Halt, wartet, ich komme mit! Ich packe in Windeseile meine Sachen zusammen und stolpere ihnen hinterher. So bin ich wenigstens nicht allein auf dem Weg. Und wenn mir etwas passiert, sind da Leute, die es merken und mir helfen werden.

Der Weg auf den Gletscher ist einfach. Lächerlich einfach. Durch den Neuschnee lässt es sich gut gehen, an allen Gletscherspalten vorbei. Und während ich den Norwegern hinterher trotte, ist es mir richtig peinlich, dass ich mich nicht getraut habe, aufzubrechen, sondern gelähmt und voller Sorgen die Nacht in der Hütte verbracht habe.

Ich habe später wieder und wieder darüber nachgedacht: Was braucht es, um einen Aufbruch zu wagen?

Ich denke, drei Dinge sind nötig:

Erstens braucht es ein Ziel, den Ausblick auf das, was besser ist als das, was ich gerade erlebe. Ich könnte es auch eine „Verheißung“ nennen. Ohne einen solchen positiven Blick nach vorn gibt es keinen Grund aufzubrechen.

Zweitens braucht es das Gefühl „Ich bin nicht allein“. Und zwar nicht nur um der Begleitung willen, sondern mit dem Ausblick: Wenn ich falle, bin ich gehalten, wird mir geholfen.

Und drittens – und das ist für mich das Entscheidende – braucht es Vertrauen, um aufzubrechen. Wenn ich dort oben auf dem Gletscher eines gelernt habe, dann: Vertrauen ist wichtig. Vertrauen, dass der Weg möglich ist. Vertrauen, dass das Ziel sich lohnt. Vertrauen, dass ich nicht allein bin, dass ich gehalten bin.

Das ist erstaunlich, denn wie oft ertappe ich mich selbst dabei, dass ich vor einem Aufbruch nach Fakten, Beweisen und Garantien frage. Ich hätte es gern schwarz auf weiß, dass alles gut wird. Ich hätte gern die Garantie, dass mir nichts passieren kann. Aber nichts davon hatte ich dort oben auf dem Gletscher, und ich bin doch ohne zu zögern aufgebrochen. Eigentlich wissen wir es doch alle: Für nichts im Leben gibt es eine Garantie. Das Aufbrechen bleibt ein Wagnis, und deshalb geht es nicht ohne Vertrauen. Nicht von ungefähr sagen wir: „Du musst dich trauen“.

Deshalb ist die Bibel nicht nur ein Buch vom Leben und von Aufbrüchen, sondern auch ein Buch des Glaubens. Denn der Glaube ist genau dieses Vertrauen. Vertrauen auf Gott. Zu glauben heißt nicht, dieses oder jenes für wahr zu halten, sondern heißt unentwegt, tagtäglich aufzubrechen voll Vertrauen.

Genau dafür ist das Frühlingserwachen in der Natur ein Zeichen!

Vertrauen, dass Gott etwas mit mir vorhat. Dass da seine Energie ist, die ich Liebe nenne, der ich mich überlassen kann, und die etwas Gutes, Schönes, Blühendes entstehen lässt, das mich lockt. Vertrauen, dass ich etwas kann, dass Gott Kraft, Fähigkeiten, Gaben in mich hineingelegt hat. Vertrauen, dass ich nicht allein bin. Er ist ja da, immer und überall, in allem.

Der Aufbruch selbst ist dann lächerlich einfach. Es ist nämlich einfach der erste Schritt. Und leider fragt man sich dann immer nur erst hinterher: Warum hast du eigentlich so lange gezögert?

Danke fürs Zuhören.

(Lutz Tietje)